
Zuletzt aktualisiert am 7. Januar 2023 um 20:57
Der Titel verwirrt? Ja, das glaube ich sofort. Vor mir liegt *10 Dinge, die ich von alten Menschen über das Leben gelernt habe* von meiner Freundin Sonja Schiff. Bis jetzt habe ich mit großer Mühe rund 100 Seiten gelesen und werde noch Wochen benötigen, um ganz zum Ende zu kommen. Und trotzdem sage ich jetzt ganz marktschreierisch, Kauft dieses Buch!
MEIN TÄGLICHER BEGLEITER; DAS CHEMOBRAIN
Ich leide seit meiner Chemotherapie, die ja schon fünf Jahre zurückliegt, immer noch unter einem Chemobrain. Das sind kognitive Einschränkungen, die im Rahmen einer Chemotherapie auftreten können. Meist verschwinden sie in den Monaten danach. Bei manchen Therapieformen, wie bei mir mit Cisplatin, können die Symptome, wenn auch abgeschwächt, oft ein Leben lang bestehen bleiben. Bei mir dürfte das offenbar der Fall sein. Das äußerst sich in Wortfindungsstörungen, die ich für andere nicht merkbar, sehr gut umschiffen kann. Dabei helfen mir meine Fremdsprachenkenntnisse, denn in einer fremden Sprache ist man ja auch oft gefordert Wörter zu umschreiben. Nur ganz selten ist mein Hirn so durchlöchert, dass ich wirklich unfähig bin sinnvolle Sätze zu formulieren. Dann vergesse ich mitunter auch mitten im Satz, was ich eigentlich sagen wollte. Ich höre schon so manchen Leser sagen *ach, das passiert mir auch*. Das glaube ich gerne, aber Alltagsvergesslichkeit ist nicht mit permanenter Belastung durch Chemobrain vergleichbar. Jahrelanges Training ermöglicht mir, diese Einschränkungen zu überdecken und im Alltag gut damit umzugehen.
OHNE ZÄHNE AUSSER HAUS
Es ist mir schon passiert, dass ich ohne Zahnprothese außer Haus gegangen bin. Und das ausgerechnet zu einem Interviewtermin. Knapp nach der Therapie war das so dramatisch, dass ich tatsächlich vergaß, wo ich hingehen wollte oder nicht mehr nach Hause fand. Ich habe für solche Fälle übrigens eine Strategie entwickelt. Ich gehe rückwärts und meist kommt dann die Erinnerung wieder. Schaut natürlich etwas ungewöhnlich aus, wenn man das in der Öffentlichkeit macht. Heute sind diese Symptome zum Glück nur mehr sehr abgeschwächt. Meist hängt es mit meiner Tagesverfassung zusammen. Müdigkeit und Stress fördert das Chemobrain.
Das sagt übrigens Wikipedia dazu und ich kann das im Groben nur bestätigen.
Gedächtnislücken
Verringerte Merkfähigkeit
Verlegen und Verlieren von Geldbörsen, Schlüsseln etc.
Extrem verringerte Fähigkeit, mehr als eine Aufgabe zugleich zu bewältigen
Probleme, mit neuen Situationen und unvorhergesehen auftretenden Belastungen umzugehen
Konzentrationsschwäche
Desorganisation
Verlangsamtes Denken und Entscheiden
Die manchmal kurz, oft aber auch jahrelang anhaltenden Symptome beeinträchtigen die Patienten im Berufs- und vor allem im Privatleben, da man ihre Schwierigkeiten nach offensichtlich überstandener Grunderkrankung oft nicht versteht.
LANGE TEXTE SIND KAUM MEHR LESBAR
Und dieses Chemobrain ist auch daran Schuld, dass ich seit Jahren kein Buch mehr lesen kann. Das ist für mich als Leseratte wirklich sehr bitter. Aber ich habe nach unzähligen Versuchen beschlossen, keine Bücher mehr anzukaufen, weil sich Berge angefangener Bücher auf meinem Nachtkästchen stapelten. Selbst bei längeren Zeitungsartikeln stellen sich oft Problem mit der Aufnahmefähigkeit ein.
SONJAS BUCH
Nun aber zum eingangs erwähnten Buch von Sonja Schiff. Sonja lebt teils in Salzburg und wir haben uns über die hiesige, bestens vernetzte Bloggerszene kennengelernt. Wir führen seit ein paar Jahren eine wunderbare Freundschaft, die wir leider zu wenig im realen Leben pflegen, weil wir beide sehr viel unterwegs sind. Vor ein paar Wochen haben wir uns endlich wieder einmal auf einen Tratsch getroffen und dabei kam die Sprache auch auf ihr Buch.
Ich habe ziemlich unumwunden gesagt, dass ich ihr Buch nicht gelesen habe. Und nur nebenbei erwähnt, dass ich eigentlich nicht mehr fähig bin, ein Buch am Stück zu lesen, sondern Wochen benötige und dann meist nicht mehr weiß, worum es eigentlich geht, weil ich vieles wieder vergessen habe. Und weil das für mich eine Belastung darstellt verzichte ich schweren Herzens auf Bücher mit Inhalt.
Siehe da, einige Tage später lag das Buch in meinem Briefkasten. Seit dem lese ich in kleinen Portionen. *10 Dinge, die ich von alten Menschen über das Leben lernte* ist zu meinem großen Glück in überschaubare Kapitel eingeteilt, so dass ich fast jeden Abend eine Lebensgeschichte von Sonjas Patienten lesen kann.
EINBLICK IN DAS LEBEN EINER ALTENPFLEGERIN
Sonja gibt nicht nur einen Einblick in ihre Arbeit als Altenpflegerin, sondern auch einen Rückblick auf ihr eigenes Leben. Wer so wie ich, lange Zeit in einem Mehrgenerationenhaus gelebt hat, kann viele der Schilderungen sehr gut nachvollziehen.
Die Sprache ist sehr gut verständlich, was in meinem Fall ja wichtig ist um bei der Sache bleiben zu können, und weckt auch tiefe Emotionen. Sie erzählt mit großem Respekt von Menschen, die am Ende ihres Lebens stehen und öffnet ein wenig die Augen, wie es uns selber möglicherweise einmal ergehen könnte.
Ich habe mich übrigens in manchen Szenen wiedererkannt. Ich war in der langen Zeit während der Chemo/Strahlentherapie zeitweise pflegebedürftig, konnte nicht aufstehen und sprechen und wurde mit einer Magensonde ernährt. Ich bin heute noch dem wunderbaren Pflegepersonal dankbar für die liebevolle und wertschätzende Hilfe. Mein Chemobrain hat in manchen Zügen Ähnlichkeit mit Demenz und Alzheimer.
Ich wiederhole mich gerne, kauft diese Buch, das vollgefüllt ist mit Gedanken und Emotionen.
Sonja Schiff
edition a
ISBN-10: 3990011391
ISBN-13: 978-3990011393
Bettina
April 26, 2017Liebe Claudia,
Deine „Chemobrain“ Probleme kommen mir sehr bekannt vor. Ich wusste gar nicht, dass es das nach Chemoptherapien gibt, aber im Grunde erscheint es nicht unlogisch.
Ich habe dann wohl ein „MS Brain“. Kognitive Störungen, wie du sie beschreibst, kommen bei MS auch häufig vor. Ich habe auch das Problem mit langen Texten. Komplexe Sachverhalte in Zeitungsartikeln zu erfassen, fällt oft schwer.
Lange Blogartikel sind auch sehr schwierig, ich kann die oft nicht bis zu Ende lesen. (Zur Zeit gelingt es mir übrigens auch nicht, längere Texte zu schreiben, aber das nur als Ärgernis so nebenbei)
Manchmal habe ich aber sogar Probleme, die Zusammenfassung eines Films im Videotext zu verstehen und muss die zwei bis vier Sätze mehrmals lesen.
Zum Glück habe ich das – noch – nicht ständig, so dass Bücher lesen noch gut möglich ist, auch wenn ich sie nicht mehr wie früher am Stück verschlinge.
Was mir momentan bei Büchern aber auffällt: Ich muss mich sehr konzentrieren, am Anfang eines Buches dabei zu bleiben. Es ist als ob mein Hirn am Anfang viel mehr gefordert ist als später, wenn es sozusagen weiss, worum es geht. Sicher war das schon immer so, nur früher war es ganz sicher nicht so auffällig und auch nicht so anstrengend.
Menschen wie wir müssen sich scheinbar etwas früher mit den Problemen auseinandersetzen, die auf alle Menschen irgendwann zu kommen.
Ich grüsse dich herzlich,
Bettina
Claudia Braunstein
April 26, 2017Liebe Bettina, du beschreibst es perfekt. Dieser Zustand von *nicht bei der Sache bleiben können* ist oft unerträglich. Natürlich ist dieser Zustand bei weitem nicht mehr so dramatisch, wie unmittelbar nach der Chemotherapie, trotzdem sind diese Unzulänglichkeiten immer noch vorhanden. Ja, manchmal komme ich mir vor wie ein hochbetagter Mensch, der unter diversen kognitiven Einschränkungen leidet. Das sind dann die Situationen in den mir bewusst wird, wie gut es ist, dass ich in Pension bin und mein leben einteilen kann wie ich will. Ob ich Blogartikel schreibe, außer Kooperationen ist vollkommen wurscht. Und da wissen meine Partner auch immer Bescheid. Ist mir aber noch nie passiert. Ganz liebe Grüße, Claudia
Sonja Schiff
April 26, 2017liebe claudia, herzlichen dank für deinen bericht und auch für die verknüpfung mit deiner lebenssituation. finde ich großartig. es freut mich sehr, dass du mein buch häppchenweise liest und es dich berührt. umarmung!
Claudia Braunstein
April 26, 2017Ich werde mich vorsichtig weitertasten 😉 Liebe Grüße, Claudia